Sun: ein ausgezeichneter Arbeiter oder ein mieser Verräter?

Der Verfremdungseffekt ist eines der typischen Merkmale des ephischen Theaters.
Auch Brecht setzte bei seinen Theaterstücken ungewohnte Mittel ein, um den Zuschauer daran zu hindern, sich einfach unterhalten oder von der Geschichte mitreißen zu lassen: Schrille Musik, verzerrte Bühnenbilder oder direkte Ansprache des Publikums - die Möglichkeiten, den Zuschauer wachzurütteln, sind vielfältig. 
Die Theaterbesucher sollen sich dadurch nicht mehr in die Figuren einfühlen, sondern sie kritisch betrachten und über ihre Handlungen nachdenken. Menschen sollten nach Brecht im Theater nicht der Wirklichkeit entfliehen und in fantastische Welten entführt werden, sondern über die Probleme der "wirklichen Welt" nachdenken. Oftmals erreichte er dies durch die direkte Ansprache des Publikums.
Mit seinen Stücken wollte Brecht aber keine einfachen Antworten liefern, die dem Zuschauer aufzeigen, wie er sich zu verhalten habe. Vielmehr stellte er durch seine Theaterstücke Fragen in den Raum und am Ende blieb das Publikum mit diesen Fragen ohne Antworten zurück.
In der 8. Szene des Stückes gibt es eine Art "episches Theater im epischen Theater": Frau Yang, die Mutter von Sun, berichtet dem Publikum, wie sich ihr Sohn von einem “verkommenen Menschen in einen nützlichen verwandelt” hat. Diese erzählende Rückblende wird durch kleine eingeschobene Szenen dargelegt, die sie wiederum kommentiert.
Diese Demonstration verfremdet die Erzählung durch ihren Kontrast zum Gesagten. Die Folge ist, daß sie genau im umgekehrten Sinn überzeugend wirkt. Sun ist in der Fabrik auf Kosten anderer aufgestiegen und betätigt sich jetzt selber im Dienst der Ausbeutung.
Dieser Bericht von Frau Yang kann als eine zweite Perspektive gesehen werden. Sie komprimiert 3 Monate gelebte Zeit in eine Szene erzählter und gespielter Zeit: die vergangene Zwischenzeit zwischen den kurzen, eingeschobenen Szenen wird durch ihren Bericht überbrückt bis die erlebte Gegenwart des Stückes erreicht wird. Hierdurch wird eine zweite Sicht auf die Dinge oder eine zweite Erzähl-Perspektive geschaffen: eine direkte und eine durch Frau Yangs Ausführungen.
Diese Aufnahme einer zweiten Perspektive, die eine Mehrsträngigkeit der Zeit und des Raums zur Folge hat, ist ein typisches Gestaltungsmerkmal von Brecht.

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